Archivalie des Monats: Wolfsburg in den Tagen der Grenzöffnung


Foto: Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsendtation HA 10287
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Wolfsburg. Allein in der Zeit vom 10. bis zum 12. November 1989 besuchten rund 15.000 Gäste aus der DDR die Stadt Wolfsburg. Wie die Stadt mitteilte, sind die Briefe mit Erinnerungen an diese Zeit das Archivalie des Monats Oktober.


„Noch am Sonntag abend [sic!]“, so berichteten die Wolfsburger Nachrichten am 13. November 1989, „war in den Straßen Wolfsburgs zu spüren, daß dieses Wochenende […] den Charakter des Einmaligen hatte.“ Denn nachdem das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski in seiner berühmten Pressekonferenz am frühen Abend des 9. November mitgeteilt hatte, dass „ständige Ausreisen“ aus der DDR „sofort“ und „unverzüglich“ möglich seien, stürmten nicht nur in Berlin, sondern an der gesamten innerdeutschen Grenze DDR-Bürger an die Grenzübergänge. Während Berlin eine welthistorische Novembernacht erlebte, die zum Symbol für das Ende des SED-Regimes und des Kalten Krieges avancieren sollte, kam es im Grenzgebiet zu vielfältigen Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen. Den DDR-Bürgern ging es dabei weniger um eine „ständige Ausreise“, denn um eine Überprüfung von Schabowskis Ankündigung – samt einer anschließenden Rückkehr.

Ein denkwürdiges Wochenende mit anderen Regeln


An jenem denkwürdigen Wochenende galten in der Volkswagenstadt andere Regeln: Parkgebühren für DDR-Autos entfielen, Besucher erhielten gegen Vorlage eines DDR-Personalausweises in den Kinos und dem Planetarium freien Eintritt. Es galten spezielle Ausnahmeregelungen für die Ladenschlusszeiten, die Stadtverwaltung organisierte Konzerte, das Volkswagenwerk Werksbesichtigungen; das Cafe Cadera offerierte gratis Kuchen, das Kaufhaus Hempel verteilte Tüten mit Lebensmitteln und Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks und des Deutschen Roten Kreuzes versorgten die Besucher am Rathaus kostenlos mit warmer Suppe, Brötchen, Kaffee und Tee – in der Stadt am Mittellandkanal herrschte geradezu Volksfeststimmung. Besonderer Andrang herrschte an den Ausgabestellen für das Begrüßungsgeld von einhundert D-Mark, von dem die Stadt allein an diesem Wochenende rund 1,3 Million DM auszahlte: „Das Rathaus glich einem Bienenstock – stetes Kommen und Gehen, nie riß der Strom ab“, berichtete die Wolfsburger Allgemeine Zeitung am 13. November. Daneben bildeten sich auch an den anderen Ausgabestellen – der Bundespost und der Deutschen Bank sowie vor der Wechselstube im Bahnhof – lange Schlangen.

Solidarität war überall spürbar


Im Schulzentrum im Eichholz in Vorsfelde waren vorsorglich 600 Schlafplätze für Besucher geschaffen worden. Auch die Wolfsburger Bevölkerung engagierte sich: Allein 800 Angebote für private Übernachtungsmöglichkeiten gingen im Rathaus ein. Viele Wolfsburger luden DDR-Bürger spontan zu sich nach Hause ein oder verteilten Kaffee, Brötchen und Kuchen. „Solidarität für die Landsleute wird überall spürbar. Man zeigt wieder Herz“, kommentierte Eberhard Rohde am 11. November in den Wolfsburger Nachrichten. Auch in den folgenden Tagen sollte der Besucherstrom nicht abreißen. Rund 20.000 Besucher waren es am folgenden Wochenende.

Zahlreiche Briefe gingen ein


Über die Eindrücke, die die Gäste aus der DDR beim Besuch Wolfsburg empfanden, geben zahlreiche Briefe Auskunft, die diese nach ihrem Besuch in der Volkswagenstadt an Oberbürgermeister Werner Schlimme oder die Stadtverwaltung richteten. Aus heute nicht mehr zu rekonstruierenden Gründen fanden die Briefe in den Akten zur Städtepartnerschaft zwischen Wolfsburg und Halberstadt Aufnahme – und dies obgleich nur ein Teil der Briefe von Einwohnern jener Stadt stammte, die am 24. Oktober 1989 Partnerstadt wurde. Die Wärme und Herzlichkeit, mit der die Wolfsburger den Gästen begegneten, fand auch in diesen Briefen ihren Niederschlag und scheint nach vierzig Jahren Systemkonkurrenz von den Besuchern aus der DDR so nicht erwartet worden zu sein. So war es ihnen ein zentrales Anliegen, sich bei den Wolfsburgen, der Stadtverwaltung und den zahlreichen ehrenamtlichen Helfern für die erfahrene Gastfreundschaft zu bedanken. „Wir waren überrascht“, schreibt der Familienvater Uwe L. aus Leipzig am 1. Dezember, „mit welchem Elan die Bürger der Stadt die Massenflut von Bürgern und Fahrzeugen aus der DDR bewältigten und versorgten. Vor unserer Reise waren wir noch sehr skeptisch wie wir DDR-Bürger empfangen werden würden.“ (Alle Briefzitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus der Akte StadtA WOB, HA 10287) Auch Friedrich S. zeigte sich „beeindruckt“ von der „Freundlich- und Herzlichkeit Ihrer Bürger“, wie er Oberbürgermeister Werner Schlimme wissen ließ. Diesen bat er sogleich, „allen Bürgern für das herzliche Entgegenkommen und den vielen fleißigen Helfern des DRK sowie der Johanniter und auch dem VW-Werk“ ein „Dankeschön“ auszurichten. Von „Tränen der Freude“ und „unbeschreiblichen Eindrücken“ berichtet gar Christian P.: „Trotz der vielen tausend Besucher eine stets freundliche und zuvorkommende Bedienung […]. Fremde Passanten schenkten unseren Kindern Geld, Händler gaben Südfrüchte kostenlos ab. Es bleibt ein unvergessener Tag.“

Begrüßungsgeld verblieb überwiegend in Wolfsburg


Bleibenden Eindruck hinterließen zudem die Segnungen der Konsumdemokratie, denn die rund 4,5 Millionen DM an Begrüßungsgeld, die in Wolfsburg im Zeitraum vom 9. bis zum 20. November ausgezahlt wurden, verblieben überwiegend in den Einkaufsläden der Porschestraße. „Am meisten freuten wir uns natürlich über das Begrüßungsgeld. So konnten wir uns doch einige Wünsche erfüllen, und waren traurig als wir am Abend Wolfsburg wieder verlassen mußten“, schreibt Norbert B. Anfang Dezember. Der Empfang des Begrüßungsgeldes war keine Selbstverständlichkeit, wie Jürgen S. den Oberbürgermeister in seinem Brief wissen ließ. Ihm „war dabei schon etwas flau in der Magengegend, denn ich kann mir vorstellen, daß es bei Ihnen Bürger gibt, die sich ebenfalls über 100 DM freuen würden und für denen [sic!] es eine Hilfe wäre. Aber mit diesem Geld konnten wir uns einige Wünsche erfüllen, von denen wir vor einem Monat noch geträumt haben.“ Gleichzeitig führte das vielfältige Angebot an Waren den DDR-Bürgern den Unterschied zwischen den beiden deutschen Staaten plastisch vor Augen und ließ manchen Besucher staunend zurück. „Ich frage mich noch heute, warum wir in der DDR nicht ein ähnliches Angebot haben“, ließ Klaus N. die Wolfsburger Stadtverwaltung an seinen Gedanken teilhaben.

Ein willkommener Kontrast zu den Plattenbauten


In Wolfsburg gefiel den Besuchern vor allem die moderne Architektur. „Die Gestaltung der Porschestraße und die Bauweise des Rathauses gefallen uns sehr“, schreibt das Ehepaar Edeltraud und Klaus S., das zum ersten Mal die Bundesrepublik besuchte. Holger N. schwärmte von der „sehr schönen Innenstadt“, (StadtA WOB, HA 10262, Bd. 2) Hans-Peter S. aus Stendal zeigte sich „sehr angetan von der Architektur, gepaart mit Ordnung und Sauberkeit“ und Klaus N. bewunderte „das viele Grün rechts und links der Straßen“. Die Volkswagenstadt stellte offensichtlich einen willkommenen Kontrast zur weitgehend grauen, eintönigen und von Plattenbauten geprägten Erscheinung der ostdeutschen Kommunen dar. Häufig fehlte jedoch die Zeit, um alle Willkommensangebote in Anspruch zu nehmen und die Stadt ausführlich zu erkunden, weshalb viele Gäste bereits weitere Besuche ankündigten.

Auch kritische Stimmen


In die Euphorie der Novembertage und die bald einsetzenden Forderungen nach der Deutschen Einheit mischten sich aber auch vereinzelt kritische Stimmen, so schrieb beispielsweise „Brigitte“: „Ihr Lieben! Das derzeitige Geschehen rüttelt an meinen Nerven! Es geht mir alles zu schnell. […] [I]ch will auch nicht überrumpelt werden mit den guten Hilfsangeboten der BRD.“ Für die meisten Besucher aus der DDR galt aber wohl, was ein junger Mann – gerade dem Sonderzug aus Stendal entstiegen – dem Reporter der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung am Nachmittag des 10. November entgegenrief: „Wolfsburg, das ist das Paradies für mich.“


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